Anderswo

Das Taxi fuhr durch die Stadt. Nicht so schnell wie die anderen leeren Taxis, aber auch nicht so langsam wie die Ortsfremend, die an jeder Kreuzung wie es schien vor staunen anhielten und die Ampeln bewunderten. Okay die Stadt war auf ihre Art sehenswert, und, für einige Betrachter sogar schön. Aber dafür hatte ich kein Auge. Nicht das ich dies prinzipiell nicht hatte. Nur waren meine Gedanken woanders. Ich sah die Häuser und Geschäfte vorbeiziehen. Als das Taxi an einer Ampel hielt betrachtete ich den Straßenrand als hätte ich ihn noch nie gesehen. Die Glasfassade eines neuen vielstöckigen Bürohauses, in der sich die Umgebung verzerrt spiegelte stand dich an dicht mit einem klassizischten Wohnhaus aus der Gründerzeit. Hinter der Kreuzung war einer der vielen kleinen Parkanlagen, kaum größer als zwei der normalen Wohnhäuser hier. Dennoch gab es Platanen, eine große Trauerweide, Hecken, Büsche, einen Spielplatz und sogar ein kleines Stück Wiese. Irgendwo was es verwunderlich wie in dieser kleinen Stadt an jeder Ecke ein bisschen Grün geschaffen wurde und auch erhalten blieb. Nichteinmal die größten Immobilienhaie kamen ernstahft auf den Gedanken aus diesen Fläche etwas anderes zu machen, 'zu entwickeln' wie es großspurig genannt wurde. Hier in dieser Stadt gehörte das Grün dazu, genau wie der Asphalt, die Hochhäuser und die hektische Betriebssamkeit der vielen Anzugträger.

All das viel mir ein, aber es verweilte nicht in meinen Gedanken und konnte die dunklen Wolken nicht vertreiben die meinen Geist umtrieben. Ich war auf dem Weg aus dieser Stadt heraus. Nicht nur für einen Moment, einen flüchtigen Augenblick für den ich der Stadt zu entfliehen, nur um dann nach Stunden, Tagen oder sogar manchmal Wochen, ihr in den Schoß zurückgekrochen kam, reumütig um Vergebung flehend überhaupt fortgewesen zu sein. Sie nam mich immer wieder auf, wie eine Mutter den verlorenen Sohn.

Diesmal jedoch war es anders. Vielleicht lag es nur an mir, vielleicht war es wirklich anders. Der Taxifahrer hatte nichteinmal versucht Konversation zu machen. Für mich sah es auch so aus als ob jeder Fußgänger und Radfahrer, jedes Fenster und sogar jedes einzelne Eichhörnchen in einem Baum mich vorwursvoll anstarrte. Wobei vorwursvoll der falsche Begriff war. Enttäuscht. Enttäusch trifft es vielleicht.

Wie oft hatte ich das gehört. Ich scheine immer jemanden zu enttäuschen. Ein totalverlust quasi. Meist habe ich es nicht verstanden. Vielleicht bin ich zu naiv. Oder einfach nur zu dumm. Es ist ja nicht so das es mir egal wäre, oder mich nicht treffen würde. Im Gegenteil. Ich wollte immer alles richtig machen. So ein Mr. Perfect. Aber letztendlich habe ich alles falsch gemacht. Und dadurch vielleicht noch mehr enttäuscht. Ich weiss es einfach nicht.

Es ist zwar erst eine Stunde her das sie mir ins Gesicht schaute mit ihren traurigen Augen. Dann sagte sie: 'ich bin furchtbar enttäuscht von dir.'. Und dann hat sie sich abgewandt und angefangen in der Zeitung zu lesen. Mein Versuch etwas - was ich ja nicht verstand - wiedergutzumachen und zu ihr kam und meine Hand auf ihre Schulter legte hat nicht funktioniert. Es fühlte sich an als ob ich meine Hand auf etwas lebloses gelegt hatte. Da wurde mir bewusst, das was immer es gewesen war, es war vorbei.

Während ich packte schaue sie nichteinmal auf. Ich habe nicht viele Sache. Einen Laptop. Ein Tablet. Ein Handy. Ein paar Netzteile, und ein paar Klamotten. Besitz belastet.

Es gab mal eine Zeit da hatte ich alles. Viel zu viel davon. Erst war es eine Höhle, dann ein Nest und dann ein Senkblei das mich an einem Tau um den Hals in die Tiefe zieht. Ich bin jetzt frei und hinterlasse wiedereinmal keine Spuren im Leben. Niemand wird mich vermissen, niemand micht suchen. Es war ein bisschen als wäre ich nie hiergewesen.

Und die Stadt war sicher auch froh, wenn ich ging, um Platz zu machen für eine weitere schillernde Persönlichkeit, die sich so wohl in ihr fühlen würden.

Ich hingegen würde der Stadt nicht fehlen. Ein bisschen Grau weniger, etwas wenige Naivität, ein wenig weniger Ich. Ja, das klang irgenwie gut. Die Stadt musste mich satthaben, und vermissen würde mich sicherlich niemand. Die wenigen mit denen ich regelmäßigen Kontakt hatte, würden sich nichts dabei denken wenn ich ein paar Wochen lang nicht auftauchen würde. Und mich dann wohl einfach vergessen. Es war nicht so das wir Poesiealben austauschen würden. Es wusste ja kaum jemand wie der andere lebt, oder wo, oder auch nur wie er mit Nachnamen heisst. Wir waren mehr oder weniger anonym, bestellten unsere Getränke und versteckten uns hinter dem Rauch unserer Zigaretten. Auch wenn sich manchmal ein tiefsinnigeres Gespräch entspann, so war es nächste mal wenn man sich traf wieder so als hätte man sich noch nie gesehen, und man schlich vorsichtig umeinander herum und beschnüffelte den anderen. Meist jedoch saß jeder nur bei seinem Getränk und versucht seine eigenen Sorgen im Alkohol zu ertränken.

Nein, hier würde ich nicht fehlen.

Es gibt keine Banden die mich binden, niemand der mich vermißt und diese Stadt, die wird mich auch nicht vermissen. Und ich sie auch nicht. Jedenfalls irgendwann nicht mehr. Ich habe schon zuviel im Leben gehabt und viel zuviel Verloren um mir die Illusion zu machen, ich könnte ohne irgendetwas nicht leben. Das ist Quatsch. Man auf alles im Leben verzichten, man kann alles genommen bekommen, aber solange man wenigstens ein bisschen isst und trinkt, so wirst du nicht aufhören zu atmen, dein Herz wird vor Kummer nicht aufhören zu schlagen und dein Gehirn wird nicht aufhören zu denken, niemals aufhören und niemals ruhig sein und die Stille die du dir wünscht wird nichteinmal in deinen Träumen existieren....

Als das Taxi am Flughafen ankommt war es als wäre eine Ewigkeit vergangen, und gleichzeitig war die Zeit für den Abschied viel zu kurz. Aber wovon sollte ich Abschied nehmen? Oder von wem? Alles für alles ist alles zu spät...

'Ride, ride like the wind, ride to be free...' Wusstet ihr wie sich das anfühlt?

Am Ticketschalter halte ich kurz an und kaufe mir ein Ticket. Nicht das es wichtig wäre wohin, aber ohne Ziel kein Ticket. Ich überlege kurz ob ich möglichst weit oder möglichst nah oder groß oder klein als Ziel fasse. Dann siegt der Rest meines rationalen Verstandes und ich wähle ein Ziel wo ich die Landessprache wenigstens rudimentär beherrsche, wo ich vielleicht in der Lage bin Arbeit zu finden, wo ich nicht zum Scheitern verurteilt ankomme, denn gescheiter bin ich in letzter Zeit genug.

Wobei scheitern ja voraussetzen würde das man sich bemüht hätte. Mir fehlt aber sogar dazu die Motivation. Die Kreditkarte wird am Ticketschalter anstandslos akzeptiert. Anscheinend ist noch etwas Geld auf dem Konto. Immer gut wenn man seiner Lebenspartnerin nicht steckt wo und wieviel Geld man hat. Den Fehler habe ich einmal gemacht. Und dannach war ich ziemlich Pleite. Naja, die Durstjahre gingen auch vorüber, dannach war ich schlauer. Und wenn man so gut wie nichts für sich selber ausgibt so hat man doch meistens einen Notgroschen oder zwei. Jedenfalls reicht es für das Ticket. Noch zwei Stunden bis zum Abflug. Zeit genug noch ein paar Sachen zu besorgen.

Ziellos wandere ich durch die schillernden Angebote. Schmuck? Für wen? Alkohol? Kaum notwendig. Zigaretten? Mühsam aufgehört, da muss ich nicht jetzt schon mühsam wieder anfangen. Letztendlich entscheide ich mich für mein größtes Laster und kaufe vier Bücher. Nichts besonderes, aber dafür wieder und wieder lesbar, weil sie keine Überraschungen in sich tragen.

Pünktlich zum boarden komme ich zum Gate, ich muss kaum warten. Mein Ziel ist kein Ziel von vielen so wie es aussieht. Der Flieger ist praktisch leer, ich kann mich auf drei Sittzen breit machen. Kaum sind wir in der Luft bin ich schon eingeschlafen.

Als ich aufwache fühle ich mich seltsam erholte. Kaum vorstellbar wenn für jemanden der schon mal versucht hat in einem Flugzeug zu schlafen. Es war wie eine Belohnung das ich die Stadt diesmal hinter mir gelassen habe, diesmal für immer.

Am Ausgang des Flughafens empfängt mich Sonnenschein. Ist schon etwas anderes, wenn gefühlt seit Monaten durch den Regen watet. Die Sonne war so warm das ich mir noch direkt am Ausgang mein Hemd ausziehe und im T-shirt in den Bus in die Stadt steige. Die Busfahrt dauert normalerweise eine Stunde aber mir kam sie viel kürzer vor. Vielleicht lag es daran das ich die strecke mit ganz neuen Augen sah. Vielleicht weil ich einfach zum Fenster hinausschaute anstatt meine Nase in irgendwelche Akten zu stecken. Vielleicht weil ich einfach irgendetwas anderes sehen wollte.

So richtig wusste ich nicht wohin also suchte ich mir eine Jugendherberge. Mit den Erfahrungen der Jugend machte ich einen Abstecher über eine U-Bahnstation wo ich meine Wertsachen einschloß und nur mit wenig Bargeld bewaffnet in der Jugendherberge unterkam. Im zweifelsfall würde ich das auch geklaut bekommen. Ich hinterließ eine falsche Anschrift und versprach meinen Pass gleich morgen zu zeigen. Mit einem erhlichen Gesicht kommt man oft weiter. Die Nacht war kurz, wahrscheinlich weil ich im Flieger schon geschlafen hatte. Vielleicht auch nur weil mich das schlechte Gewissen plagte. Um 400 verließ ich die Herberge. Ich streifte durch die Innenstadt auf der Suche nach einer Unterkunft. Wo man nicht viele Fragen stellte und nicht viel verlangte. Ich fand diese in der Calle Leon, neben Arabern und Afrikanern, neben legalen und illegalen Einwanderern, die genau wie ich auf der Suche nach einem neuen Leben waren. Für sie war es der Weg aus dem nichts, für mich der Weg genau dorthin. Wenn ich wirklich neu anfangen wollte musste ich alles hinter mir lassen - mein Leben, meine Arbeit, meine Ausbildung und auch meinen Namen.

War ich bereit alles über Bord zu werfen? All die Jahre meines Lebens zu vergessen, zu vertuschen, mit einem weissen Blatt neu anfangen? Nachdenklich wandere ich die Straße die meine neue Heimat werden sollte entlang. Aus den Wohnungen und Innenhöfen klangen all die Laute die mir so vertraut vorkamen obwohl ich sicher war sie noch nicht gehört zu haben. Unterhaltungen, Zankereien und dazwischen das fröhliche Lachen der Kinder.

Und mit jedem Schritt fühle ich wie ich mich entspannte und wie ich die neue Heimat annehme, zumindest für diesen Augenblick. Mit einem Lächeln kaufe ich einige Lebensmittel und gehe in meine Wohnung. Wohnung war großzügig, bestand sie doch nur aus einem Zimmer, einer Herdplatte, einem alten Bett, einem wackligen Tisch und einem Stuhl auf den ich mich kaum zu setzen traute, aus Angst er würde zusammenbrechen. Ein waschbecken und das Klo waren auf dem Gang, aber das machte mir nichts. Ich machte mir ein Sandwich aus den Einkäufen und legte mich zum Essen auf das Bett. Morgen würde ich versuchen Arbeit zu finden...

Meine Suche nach Arbeit war schneller zuende als gedacht. Meine Adresse machte die Klinik zwar stutzig, aber mein Pass wurde nur kur geprüft, und schien standzuhalten. Niemand fragte so genau nach, obwohl ich mir schon eine Ausrede ausgedacht hatte, warum im Pass stand ich wäre Doktor aber eine Stelle als Hilfspfleger annahm. Es war hier wahrscheinlich allen egal weil wie überall Pfleger mangelware waren. Ich sollte noch meine Arbeitsklamotten abholen, mein spind wurde mir gezeigt und am nächsten Tag durfte ich zur spätschicht anfangen.

Am nächsten Abend fing ich meine Arbeit pünktlich an. In meinen Spind lagen meine Sachen, ich hatte eine kleine Taschen mit meinem abendbrot und etwas zu lesen dabei. Ich wusste das die Nächte lang werden konnten im Krankenhaus. Wie lange war es her das ich dort gearbeitet hatte? Erst als Zivi, dann als Assistenzarzt. Irgendwann hatte ich genug vom Leiden und Sterben und ging in die Wirtschaft zu einem großen Pharmakonzern, zog um die Welt und versuchte Produkte zu verkaufen. Das alles schien so lange her zu sein, ich konnte mich kaum noch daran erinnern. Und doch erzeugte der Geruch von Desinfektionsmitteln eine fast schon wehmütige erinnerung.

Die Nachtschichten waren ruhig, ich wurde in der orthopädischen Abteilung eingesetzt. Die Fuß- und Beinlahmen brauchten wenig und manche humpelten nur aus langeweile herum. So konnte ich viel lesen. Meine Bücher, die letzten überbleibsel aus der alten Stadt hatte ich bald gelesen und schenkte sie der Krankenhausbibliothek. Dafür nahm ich mir andere. Die Bibliothek war erstaunlich gut sortiert.

Nach einigen Monaten fühlte ich mich richtig wohl und es schien mir als wäre ich hier am richtigen Platz. Doch dann, dann kam Tanja und alles wurde anders...

Als Tanja hier anfing war eigentlich alles in Ordnung. Ich hatte mein altes leben schon fast vergessen. Ich fühlte mich wohl in der Bedeutungslosigkeit. Ohne Bedeutung auch keine Verantwortung, ohne Verantwortung keine Enttäuschung. Ohne Enttäuschung nur noch die Ruhe die ich mir so wünschte.

Tanja, so wie sie mir am Anfang vorkam, war nichts besonderes. Sie hatte wohl keine besondere Erfahrung und landete aus Zufall in unserer Abteilung. Sie tat was man ihr sagte und sprach selber nicht viel. Man konnte wirklich nicht sagen, das sie schlecht aussah, mit ihren langen dunklen Haaren, den schwarzen Augen, bei deren Anblick man immer das Gefühl hatte in die dunkelste Nacht zu starren. Aber kaum drehte sie sich weg, dachte man nicht mehr viel an sie. Es ging nicht nur mir so. Sie wurde regelmäßig bei den nicht seltenen Gelegenheiten zu feiern vergessen. Kaum einer konnte sagen ob sie Schicht hatte oder nicht. Sie war beinnahe unsichtbar.

Ein paar Wochen nachdem Tanja aufgetaucht war, wurden wir alle zu Chef gerufen. Dieser teilte uns mit, das in den nächsten Monaten unsere Abteilung alle Patienten vor die Tür setzen müsste, und diese wurde abgeschottet gegenüber dem Rest des Krankenhauses. Die Krankenzimmer wurden leergeräumt und stattdessen Schreibtische hereingeräumt. In eines der Zimmer wurde sogar eine Küche gemacht. Nur ein einziges Zimmer blieb erhalten. Alle die in der Abteilung mussten einen zettel unterschreiben das wir mit niemanden mehr ausserhalb des Krankenhauses reden durften. Wer den Zettel nicht unterschrieb musste in eine andere Abteilung gehen. Ich unterschrieb. Mit wem sollte ich auch reden?

Als ich dannach gehen wollte wurde mir dann gesagt das das nicht ging. Anscheind hatte ich auch unterschrieben, das ich auf unbestimmte Zeit in der Abteilung wohnen würde. Immerhin, die Zimmer waren größer als meine ganze Wohnung.

Am nächsten Tag tauchen eine Menge Typen in dunklen Anzügen auf und durchsuchten jeden Raum. Alles was entfernt aussah wie ein Messer wurde entfernt. Und dann kamen Geräte, alles nagelneu. Langsam fragte ich mich ob es eine gute Idee war zu unterschreiben und zu bleiben. Am Abend wurden wir wieder zum Chefarzt gerufen. Allerdings stand der Chefarzt diesmal neben uns und auf der anderen Seite des Tisches saß ein unscheinbarer Typ wieder im dunklen Anzug. Er teilte uns mit das eine sehr wichtige Person in dem Krankenhaus behandelt würde und wir nur für die Abteilung zuständig seien. Wer es war wurde uns nicht gesagt. Einige der dageblibenen fingen an zu murren.

"Sie sollten sich bewusst sein, dass Sie einen gültigen Vertrag unterschrieben haben, der nich unerhebliche Sanktionen vorsieht, wenn Sie jetzt wieder aussteigen. Natürlich steht es Ihnen frei zu gehen, Sie sollten sich aber darüber bewusst sein."

Das Murren hörte recht schnell wieder auf. Immerhin sollten wir wohl einen beträchtlichen Bonus bekommen. Mir war es eigentlich egal. Ich hatte mich gut eingelebt und fühlte mich soweit wohl, ausserdem war ich überhzeugt das es vorübergehen würde und nichts besonderes passieren würde.

Eine Woche später tauchte der Patient auf. Ich hatte keine Ahnung wer es sein könnte, die Nachrichten hatte ich seit Monaten nicht gesehen und die letzte Zeitung die ich gelesen hatte war die aus der ich meine Wohnung habe. Es kamen zusätzlich zu den bereits vorhandenen Anzugträgern noch einige Riesen, breitschultrig und wortkark. Ausserdem waren eine weitere Ärzte dabei und eine Schwester. Wir waren wohl in erster Linie Deko.

Anfangs hatten wir wenig zu tun, es schien als traute man uns nicht über den Weg. Nach einigen Wochen jedoch, durften wir unter den strengen Augen der riesigen Leibwächter die eine oder andere Tätigkeit durchführen. Für mich war es sogar eine willkommene Abwechslung die Bettpfanne und Urinflaschen zu wechseln, da wir ja nichtmal neue Bücher bekamen und ich fast alles durchgelesen hatte.

Und ich bekam die Gelegenheit den Typen etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Er war mittelalt, unscheinbar und anscheind rasierte ihn jemand regelmäßig. Und er schlief immer. Es war definitiv Schlaf und kein Koma. Er war an kein Beatmungsgerät angeschlossen und das EKG war abgeschaltet. Ich wunderte mich weswegen er eigentlich da war, weil es ihm ja soweit gutging. Wobei wir ja nicht wussten ob eines der vielen Essen die in unsere Abteilung wanderten für ihn war. Aber er sah nicht dick oder verhungert aus.

Nach einigen Tagen kam ein Paket und ich schaute neugierig hinein, es war schliesslich endlich mal ein Ereignis. Allerdings wurde mir die Kiste sofort aus der Hand gerissen. Ich konnte jedoch sehen das zumindest die oberste Schicht aus sorbitinfusionen und künstlicher nahrung handelte. Es wurde also anscheinend zwangsernährt.

Während der Zeit kamen Tanja und ich uns näher. Wir hatten ja nicht viel zu tun. Im Rückblick war es eigentlich ich der sie zutextete, sie sah mich nur unverwandt aus ihren dunklen Augen an. Irgendwann stand sie einfach auf, ging zu mir und fing an mich auszuziehen. Sie viel über mich her wie ein hungriges Tier. Es war irgendwie seltsam, also nicht das es schlecht war. Im Gegenteil. Ich hatte aber dannach das Gefühl, als wäre ich eher so eine Mahlzeit gewesen. Dannach stand sie wortlos auf, zog sich an und ging auf ihr Zimmer. In den nächsten Wochen lief es immer wieder ähnlich ab, sie kam auf mein Zimmer und fiel einfach über mich her ohne ein Wort zu sagen. Wenn ich etwas bei ihr versuchte drehte sie sich einfach weg und ging. Irgenwann hatte ich sie sogar so weit das sie ein bisschen über sich erzählte. Sie kam aus einer der ehemaligen Sowjetrepublicken. Tasachstan oder Tadjikistan oder sowas. Ich habe es nicht verstanden und mittlerweile herausgefunden das sie auf direkte Fragen niemals antwortete.

Wenn sie etwas erzählte dann war es so als würde sie aus einem Buch vorlesen, ohne Punkt und Komma, ganz leise, mehr so zu sich selbst. Ich nahm es hin, wollte nicht kaputt machen wovon ich gar nicht wusste ob es existierte.

Bei der Arbeit, soweit man unsere kleine Enklave mit so etwas in Verbindung bringen kann, sahen wir uns sowieso kaum. Uns wurde allen bald klar das man sehr darauf achtete dass jeder nur bestimmte Tätigkeiten ausführte und ich merkte schnell das das darauf hinauslief das niemand genau wusste was der Patient eigentlich hatte. Meine Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, war hier durchaus hilfreich. Ich wollte ja eigentlich gar nichts besonderes, sondern nur meine Ruhe. Dachte ich...

Nach einigen weiteren Wochen wurde ich immer unruhiger. Es war nicht so das ich nervös war, oder nichts mehr zu lesen hatte. Meine Gedanken kreisten nur ständig um die Frage was der Patient haben könnte und wie er behandelt wurde. Und warum ausgerechnet hier. Man hätte uns ja auch einfach ganz wegschicken können. An den Geräten konnte es nicht liegen, die waren ja alle neu, und die Medikamente konnte man zur Not überall hinschicken.

Anfangs fand ich die Grübellei nur lästig und konnte sie gut wegschieben. Aber mit der Zeit fing ich an auf den Gängen rumzulungern. Spaziergänge in unsere kleinen Abteilung zu machen und so lange rumzuhängen bis man mich wieder in mein Zimmer scheuchte. Trotzdem schnappte ich immer mehr Informationen auf und mir wurde bald klar das es sich um etwas ungewöhnliches handeln musste. Spätestens als wir alle zwangsweise Blut abgenommen bekamen find ich an misstrauisch zu werden, eigentlich ein Wesenszug von dem ich dachte ich hätte ihn abgelegt.

Bei einem meiner Rundgänge fand ich zufällig einen Abschnitt der aus einer Akte gefallen sein musste - aus meiner Akte. Ich kannte meinen Körper ziemlich gut, schliesslich mussten wir im Studium uns andauernd gegenseitig pieksen und auf alle möglichen Sachen untersuchen. Wie sich herausstellte wurde eine Gentypisierung durchgeführt. Nicht so eine Obeflächliche wie sie einem in irgenwelchen Zeitschriften als 'ihr Gen auf einem Reiskorn' verkauft wird. Nein, eine vollständige die eigentlich nur dann gemacht wird wenn eine Organtransplantation durchgeführt werden sollte. Und dann verschwand Alfonso.

Morgends hatte ich ihn noch gesehen, mittags war er weg. Sein Zimmer war leer. Ich hatte nichteinmal bemerkt das jemand etwas rausgetragen hat. Erst dachte ich mir nichts dabei. Bis eine Woche später eine Lieferung kam, die ich wieder nur durch Zufall sah - ich hatte mir angewöhnt meine Zimmertür immer einen Spalt aufzumachen so dass ich hören konnte was draussen geschah und 'zufällig' hineinplatzen konnte -, nämlich die Lieferung eine Kühltasche. Keiner normalen sondern einer in der normalerweise Organe transportiert werden. Ich wollte sie mir gerade anschauen, als einer der fiesen Bodyguards aus dem Patientenzimmer trat und die Tasche hineinbrachte. Ich hatte Glück das er mich nicht gesehen hatte, weil er es so eilig hatte.

Wir durften für vier Wochen nicht zu dem Patienten, ja nichteinmal unsere Zimmer verlassen. Durch meinen Türtrick bekam ich mit das wohl irgendetwas nicht so gut lief. Nach zwei wochen kamen immer öfters Leute, die ziemlich nervös aussahen. Und viele, viele Packete. Ich vermutete das die Transplantation nicht so gut gelaufen war. Das war etwa zu der Zeit als ich Tanja von meinem Verdacht erzählte. Als ich ihr dann noch erzählte das ich an einen schlechten Ausgang der Transplantation glaubte klaptte sie zu wie eine Auster. Es war als erstarrte sie kurz. Dann drehte sie sich um und verschwand.

Ich sah sie in den nächsten zwei Wochen nicht - wir hatten zwar Zimmerarrest, da aber niemand nach uns sah, war es durchaus möglich die anderen zu 'besuchen'. Doch immer wenn ich es bei ihr versuchte, war die Tür abgeschlossen. Bald gab ich es auf.

Ich schrieb mir mittlerweile auf was für Pakete kamen und spekulierte wild vor mich hin. Bei der schieren Anzahl mussten es erhebliche Komplikationen sein. Immerhin war noch keine Dialyse meines wissens aufgebaut, insofern war es noch nicht kritisch. Und ich fragte mich, wenn die Komplikationen vorüber waren, wer würde als nächster dran glauben? Oder war das nur ein Einzelfall? Durch meine vorsichtigen Fragen hatte ich nämlich erfahren das wir alle diesselbe Blutgruppe hatten. Das konnte kein Zufall sein!

Schliesslich war ich soweit dass ich die Initiative ergreifen wollte und die Station nachts durchsuchen. Ich musste einfach etwas tun und das sollte in dieser Nacht geschehen.

Gegn 2400 öffnete ich meine Tür einen spalt und lauschte für 10 minuten angestrengt. Als ich sicher war das sich nichts rührt trat ich aus der Tür - und sofort wieder zurück. Da stand Tanja mit dem rücken zu mir an der Tür zum Patientenraum. Sie ging aber nicht hinein, sonder schloß die Tür gerade hinter sich so leise als wäre sie gar nicht da. Dann ließ sie etwas in einen Mülleimer neben der Tür fallen und huschte wie ein Schatten in ihr Zimmer. Ich wartete noch ein Paar Augenblicke, dann ging ich zu dem Mülleimer so leise wie es mir möglich war. Ich war festüberzeugt davon, dass mich mein Herzschlag verraten würde. Im Mülleimer lag obenauf eine Spritze. Sie war gefüllt mir mit einer klaren Flüssigkeit. Wasser? Ein Schmerzmittel? Oder doch etwas anderes? Ich beschloss die Spritze zu verstecken für den Fall das ich sie später benötigen würde. Der Kaffeewagen erschien mir ideal, also klebe ich sie mit einem Pflaster darunter und ging wieder auf mein Zimmer. Eine Stunde später brach die Hölle los auf unserer Abteilung...

Die Tür zu meinem Zimmer wurde aufgerissen und es stürmten vier dieser Bodyguards hinein. Ich wurde an die wand gestellt wie ein Verbrecher und durchsucht. Sehr gründlich durchsucht. Sehr, sehr gründlich. Dannach hoffte ich das meine Hoden keinen ernsthaften Schaden genommen hatten, da man wohl davon aufging das ich auch dort etwas versteckt haben könnte. Alle Schubladen wurden aufgerissen und alle Schränke durchwühlt. Nachdem wirklich alles der wenigen Sachen in dem Zimmer aufgerissen, durchsucht und verteilt worden war zogen die Kerle einfach wortlos wieder ab. Der Geräuschkulisse nach zu schliessen sah es in den anderen Zimmern nicht besser aus. Ich fragte mich erst was passier war, dann ob ich es überhaupt wissen wollte. Nach ein paar Stunden war es wieder ruhiger. Verlassen konnte ich mein Zimmer nicht mehr, es war von innen abgesperrt. Essen kam an dem Tag auch nicht mehr, also versuchte ich das beste aus dem Tag zu machen, und nachdem ich keine Lust mehr hatte zu Lesen habe ich mit meinem knurrenden Magen geschlafen.

Am darauffolgenden Tag wurde meine Zimmertür geöffnet und nach zwei Bodyguards kam ein kleiner eher unscheibarer Typ hinein. Er bedeutete mir mich zu setzen und setzte sich dann gegenüber. Die beiden Bodyguards stellte sich neben mich. Dann fing er an Fragen zu stellen. Wie ich heisse, woher ich kam, was ich die Tage zuvor gemacht hatte. Ich beantwortete die Fragen so gut es ging, wobei ich ihm auch hier wenig über mein altes Leben erzählte. Das schien ihn auch nicht wirklich zu interssieren.

Irgendwann schien es als wären ihm die Fragen ausgegangen und er starrte nur noch gedankenverloren auf den Boden. Dann sprach er leise in den Raum und sagte nur 'Mikael.'.

Das nächste was passierte war das mir der rechte Typ mit der Handkante die Nase bracht. Erst habe ich den Schlag gar nicht gespürt sonder war einfach nur völlig verdutzt. Dann kam der Schmerz und ich konnte an gar nichts mehr anderes denken. Hemmungslos liefen mir die Tränen herunter und ich krümmte mich zusammen und versucht Luft zu bekommen. Als ich wieder einigermassen atmen konnte merkte ich das die anderen drei nur teilnahmslos da saßen und darauf warteten das ich wieder ansprechbar wurde.

'Am besten wir fangen von vorne an und Sie erzählen mir diesmal die Wahrheit.'

Ob ich vorher schon bemerkt hatte das der Typ die toten Augen eines Fisches hatte weiss ich nicht, aber er starrte mir an wie ein Enymologe ein Insekt auf dem Präpariertisch auscht: wie etwas das interessant genug ist, dass man ihm einen Augenblick Zeit widmet, aber wovon es genug gibt um sich ein neues davon zu holen wenn es nicht so funktionier wie gedacht.

Er stellte mir die selben Fragen. Diesmal versuchte ich so gut es ging bei der Warheit zu bleiben, aber etwas in mir drinnen verhinderte das ich ihm alles erzählte.

Dann begannen wohl die eigentlichen Fragen.

'Seit wann kennen Sie Tanja?'

'Woher kennen Sie sie?'

'wann fing sie hier an?'

Ich war wohl vollkommen uninteressant für ihn. Die Antworten waren einfach und ich glaubte auch nicht das ich damit etwas ändern würde. Und dann kamen die Fragen die schnwierig wurden. Nach Tanjas Vergangenheit. Wo sie herkam?

Ich antwortete ausweichend, mehr aus Gewohnheit als aus gutem Grund, ich wusste es ja nicht.

Diesmal dauerte es länger bis sie die Fragen wieder stellen konnten, nachdem sie mir zwei Finger der rechten Hand gebrochen hatten. Es ist erstaunlich wie schnell eine gebrochene Nase aufhört weh zu tun, die Finger hingegen werden so oft unbewusst bewegt das es sich die ganze Zeit so anfühlt als würde man seine Hand in Feuer halten.

Wieder wurden dieselben Fragen gestellt. Ich bekam den Eindruck als ob sie das nicht zum ersten Mal machten. Ich beantwortete die Fragen so gut es ging. Dann brachen sie mir noch einen Finger um sicher zu gehen.

Die neuen Fragen die dann kamen waren die schlimmsten. Ich konnte mir kaum vorstellen das ich noch mehr schmerzen empfinden könnte.

'Wo ist Tanja?'

'Hier nicht.'

Ohne Vorwanung packte Mikael mich im genick und donnerte mein Gesicht gegen die Zimmerwand.

Es stimmt nicht das es beim ersten Mal am Schlimmsten ist. Als er mir damit die Nase ein zweitesmal brach wurde ich tatsächlich ohnmächtig. Ich kam im Stuhl wieder zu mir.

'Ich werde langsam ungeduldig. Vernünftige Antworten würden uns beiden nützen.'

Auf alles Fragen die er nun stellte antwortete ich kurz, leise und so gut es ging. Dennoch konnte ich ihm aus einem inneren zwang heraus weder sagen was ich beobachtet hatte noch was ich mit der Spritze gemacht hatte. Es war also nicht, aber das wenige schien ihm zu reichen. Sie schienen nicht zu wissen was eigentlich passiert war, und ausser dem Hinweis das Tanja verschwunden war erfuhr ich nichts.

Nach einiger Zeit - ich weiss nicht mehr so genau wie lange - gingen alle drei ohne ein weiteres Wort. Stattdessen kam eine der Schwester die sich mitgebracht hatten herein, mit einer aufgezogenen Spritze die sie mir kommentarlos verabreichte. Es handelte sich zum Glück um ein Schmerzmittel, da sie direkt dannach erst meine Nase richtete und dann meine Finger. Durch die Spritze flaute der Schmerz erfreulich schnell ab. Dann schiente sie meinen gebrochenen Körper und verschwand. Ich hatte den Eindruck das auch sie das nicht zum ersten mal machte. Die Tür schloss sie hinter sich ab.

Am nächsten Tag spielte sich das gleiche ab. Wieder stellten sie die gleichen Fragen, wieder antwortete ich ihnen das gleiche. Es kamen jedoch ein paar neue Fragen dazu. So zu unserem Verhältnis, was ich so nicht nennen wollte. Wir hatten Sex, und es war eher so als ob sie mich benutzte, ich war nur Dekoration. Sie verzichteten darauf mir weitere Finger zu brechen, die Nase war auch empfindlich genug. Drei Tage ging es so, jedesmal kam die Schwester dannach, verarztete mich schweigend und schloss mich ein.

Am vierten Typ kam nur der Typ der mir fragen stellte, legte mir ein Papier auf den Nachttisch und forderte mich auf es zu unterschreiben. Ich warf einen Blick darauf und unterschrieb es, es war meine Aussage. Dann verschwand er wortlos. Die Tür schloss er wieder hinter mir ab.

Am nächsten Morgen wurde die Tür aufgeschlossen und zu meiner Überraschung kam ein bekanntes Gesicht aus dem Krankenhaus. Es war unser Oberarzt. Er entschuldigte sich wortreich für die Umstände - ja genau so nannte er es, gab mir einen Umschlag und ließ mich eine weitere Schweigeerklärung unterschreiben. In dem Umschlag waren 10000 euro schweigegeld. Ich nahm das Geld und war einfach nur froh das es vorbei war. Die Abteilung war menschenleer ausser den anderen Kollegen und natürlich ohne Tanja. In den nächsten Wochen normalisierte sich alles wieder, wir hatten alle erst mal einen Monat frei. Nachdem wir uns in der Abteilung wiedertrafen verlor niemand ein Wort darüber was geschehen war. aus dem Fernsehen hörte ich das in irgendeinem der ehemaligen Sowjetrepubliken eine friedliche Revolution stattgefunden hatte, nachdem das alte Staatsoberhaupt plötzlich spurlos verschwunden war. An der Spitze stand wohl eine Frau, irgendetwas wie wie Tina oder Anja war ihr Name. So genau interssierte es mich auch nicht. Ich beschloß für meinen Teil dass ich lange genug hier geblieben war und setzte mich mit dem Schweigegeld in den nächsten Flieger nach Brasilien. Vielleicht konnte ich dort einen neuen Neuanfang machen.

Die Spritze aber nahm ich mit und hatte sie immer dabei. Warum genau wußte ich nicht, aber irgendwie fühlte es sich richtig an, und wenn es auch nur war, damit ich nicht vergaß, dass auch ein Niemand ein Stein im Getriebe sein kann und es gar nicht so wichtig ist was du weisst, hauptsache du tust was dir richtig erscheint....

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