Nahmed

Sie blätterte auf ihrem Notziblock die Seite um. Ein linierter College Block. A5. So wie man es sich vorstellt. Es blieb ihr gerade noch die Zeit ihren Bleistift neu zu spitzen. Einer lag immer als Reserve auf ihrem Schreibtisch. Ein altmodischer massiver Eichenschreibtisch. Der Großvater hat ihn ihr vermacht. Nun gut, eigentlich nicht, seine letzten Worte waren "Fahr doch alle zur Hölle!", was aber von den anwesend Familienmitgliedern als Aufforderung verstanden wurde, zu nehmen was nicht festgenagelt war. Der Schreibtisch war zu schwer. Und da die alte Eiche nicht gut brennt, blieb er einfach übrig und landete eines Tages in ihrer Praxis. "Praxis für Psychotherapie, Dr. Ulrike Borg, Diplom-Psychologin" stand an der Tür. Immerhin für einen Doktor hat es gereicht. Und dieses Schild. Und ein paar Bücherregale von IKEA, die neben dem Schreibtisch doch recht schäbig aussahen.
Die Couch war auch von IKEA. Der Stuhl, auf dem sie saß, von Ihrem Ex-Freund. Ein Arschloch. So ist das eben mit Psychologen. Man versucht anderen Leuten zu helfen und greift immer und immer wieder ins selbe Klo.
"Hallo." Sie zuckt zusammen als Sie ihren nächsten Patienten hört. Wie immer war er so leise, das sie nicht einmal die Tür gehört hat. Er ist schon drinnen. "Guten Abend, Nahmen." Automatisch legt er sich auf die Couch. Wie im Fernsehen. Sie sitzt ihm halb gegenüber, mit überschlagenen Beinen und den Block auf den Beinen. Seit sie gelernt hat, keine kurzen Röcke in der Praxis anzuziehen, sind weniger Männer in Behandlung. Dafür habe die die da sind, auch echte Probleme. Bei Nahmed was sie nicht sicher. 'Ich werde mir heute abend seine Akte nochmal anschauen.' dachte Sie bei sich. "Waren Sie beim Friseur, Frau Doktor?" "Wie jeden zweiten Donnerstag Nahmed." "Steht Ihnen." "Ja, wie jeden zweiten Donnerstag. Wollen wir anfangen?". "Ja." Er erzählte wieder was er die Woche so getan hatte. Gearbeitet. Gegessen. Sonntags Sex. 'Bei Luisa'. So hiess es, wo er immer hinging. In einer Großstadt wäre es ein Puff gewesen. Hier auf dem Land ist es schon fast eine Beziehung.
Sie liess ihn wie immer Erzählen. Die ersten 30 Minuten liefen immer so. Diesmal fiel es ihr aber noch viel schwerer als sonst, sich zu konzentrieren. Es erschien ihr in letzter Zeit immer ungerechter, das sie diejenige war die zuhörte. Schon komisch, aber ihr hörte keiner zu. Nicht ihre Tochter. Nicht ihr Mann. Nicht einmal Nahmed. Der jede Woche kam. Seit Jahren. Eigentlich war er sowas wie ein Stammgast. Seltsam. Der einzige andere Mann mit dem sie sonst regelmäßig zusammen war, war ihr Ehemann. Obwohl, "zusammensein" trifft es nach 20 Jahren Ehe nicht mehr. Eher "zusammen wohnen". "Unter einem Dach schlafen".
Wobei es durch die häufigen Geschäftsreisen ihres Mannes auch nicht so ganz zutrifft. Die Dienstreisen wurden auch immer länger. Am Anfang hat er ihr immer etwas mitgebracht. Blumen. Parfum. Kleinigkeiten eben. Aber seit ein paar Jahren war auch das vorbei. Eigentlich seit die Reisen keine Tage sondern Wochen dauerten. Irgendwie komisch.
Tief in ihrem inneren vermutete sie, das er gar nicht mehr auf Reise geht. Sondern zu einer anderen. Wahrscheinlich eine, der er auch erzählt, er müsste auf "Geschäftsreise".
Früher einmal hätte sie der Gedanke fertiggemacht. Jetzt fühlte sie irgendwo noch einen leichten Stich. Aber nicht wirklich Schmerz. Schon komisch was in zwanzig Jahren so alles passiert.
Früher, ja früher war noch Feuer in der Beziehung. Mein Gott, wo haben sie es überall getrieben. Kein Fleckchen in der kleinen Wohnung war sicher. Der Erfolg kam nach ein paar Monaten schon. Sie war schwanger. Eine Tochter. Heute erwachsen, schon lange aus dem Haus. Studiert Medizin. Kommt nur um ihren Kühlschrank und das Portemonnaie aufzufüllen.
Das erste Kind hat das Feuer nicht gelöscht. Sie wurde knapp 15 Monate nach dem ersten wieder schwanger. Fehlgeburt. Schwere Zeit. 2 Jahre wollten sie es nochmal versuchen. Bei der Geburt ist was schiefgelaufen. Die Nabelschnur war um den Hals gewickelt. Ein paar Minuten zu lang. Schwere geistige Behinderung war die Folge. Elf Jahre lebte das Kind. Daran war alles Zerbrochen. Berührungen mit ihrem Mann gab es nur noch zufällig. Sex schon seit Jahren nicht mehr. Keiner schien es zu vermissen in der Beziehung. Mit Alfred, ihrem Sohn, waren auch ihre Gefühle gestorben.
Nach drei Jahren nahm sie ihren alten Beruf wieder auf. Psychotherapeutin. Warum eigentlich? Soll der Blinde doch die Tauben führe. Sie wusste wenigstens was "kaputt" heisst. Und doch schien es ihr, als ob viele ihrer Patienten noch kaputter wären.
Kein Wunder. Schliesslich war sie nicht irgendeine Nobelpyschotante in München. Nein, eine Kleinstadt im Spessart. Hier gab es genau einen Bäcker, einen Metzger und eine Tankstelle. Einen Baustoffladen und viele Landwirte und deren Mädge und Knechte. Einen Puff. Und erstaunlich viele Probleme. Inzest war an der Tagesordnung. Kaum eine Frau die nicht geschlagen wurde. Bleibt ja alles in der Familie.
Das alles. Und Nahmed. Wo er herkam wusste eigentlich keiner so genau. Eines Tages war er da. Kaufte beim Bäcker seine Brotchen. Immer mit seinem blauen Fahrrad, das aussah als hätte eine alternative Komune es weggeworfen. Immer mit seinem gelb karierten Sacko und dem weissen Hemd. Die lockigen Haar schwungvoll nach hinten geworfen oder manchmal mit einem Haarband zusammengebunden.
Er tauchte auf und war das Gespräch in der Stadt. Kein Wunder, bei fünfhundert Einwohnern wird es sonst auch langweilig. Keine zwei Tage, nachdem sie das erste mal von Ihm gehört habe, stand er vor ihrer Praxis und wollte einen Termin. Das war erstaunlich. Eigentlich hatte sie immer den Eindruck, die Leute kamen nur aus Höflichkeit. Die Stunde mit dem Bäcker war schon peinlich - der Mann hatte gar keine Probleme mit sich. Aber sie kaufte ihre Brötchen da. Und wenn sie dorhingeht, muss er auch zu ihr gehen. Schliesslich wollen alle Leben.
Und Nahmed stand vor ihrer Tür. Höflich, zurückhalten.
"Ich würde gerne zu Ihnen kommen."
"Bitte?"
"Nach stundenweise..."
Mit hochrotem Kopf frage sie "Wie bitte? Ich verstehe nich..."
"Na, sie machen doch den Seelenklemptner hier, oder?"
"Ja, natürlich... Ach so. Äh, ja. Gerne, einen Moment, ich muss hier doch meinen Kalender irgendwo..."
Nach ein bischen hektischen gesuche war der Kalender gefunden und der erste Termin wurde festgemacht. Freitag um Neun Uhr. Seit vier Jahren. Praktisch ohne Unterbrechung wenn man von den wenigen malen, die sie ihre Praxis wegen Urlaub geschlossen hatte absieht.
Es schien ihr, als ob Nahmed seit vier Jahren dasselbe erzählt. Immer der gleiche Ablauf. Immer die gleichen Dinge die er tut. Über seine Arbeit hat er allerdings noch nie gesprochen. Auch nicht über die Zeit bevor er in ihren Ort kam. Sie hatte ein paarmal versucht ihn darauf anzusprechen, aber er bog immer elegant ab. Nie unhöflich oder barsch. Er antwortete nur nicht auf die Frage.
Und obwohl sie eigentlich in der Lage sein sollte, einen Patienten festzunageln, hat sie es nicht ein einziges Mal auch nur bemerkt. Immer erst wenn er weg war, fiel ihr auf, das er nicht auf ihre Fragen antwortete.
Die plötzliche Stille die in ihrem Zimmer herrschte schreckt sie plötzlich aus ihren Gedanken. Ein unangenehmes Schweigen füllt den Raum. Es war als ob jemand eine Frage gestellt hatte, und niemand hat zugehört.
"Haben Sie mich etwas gefragt?"
"Ja. Wie lautet Ihre Antwort?"

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