Der Wanderer

„Ich bin nicht mehr der der ich war.“ Der Satz hing zwischen uns, er bildete die Barriere kaum war er ausgesprochen. Ihr Blick war verwirrt und ungläubig. Das war wenig überraschend, denn für Sie hatte sich nichts geändert. Für Sie war ich der, der ich vorher war. Für Sie war es kaum vierundzwandzig Stunden her das wir uns das letzte mal sahen.
Für mich eine Ewigkeit.
Ich hatte viel gesehen, erlebt, getan. Und ich wusste, das ich es ihr sagen sollte, sagen musste. Sie hätte es gemerkt, so wie jeder es bemerkt wenn der andere nicht mehr derselbe ist. Es ist normalerweise ein Prozess der über viele Jahre hingweg passiert, insbesondere wenn man zusammenlebt, so bemerkt man es nicht. Wenn man einen Freund, der einem nahe stand für ein Jahr oder zwei Jahre nicht gesehen hat, passiert es schon das man feststellt, das er sich geändert hat. Meistens hat man sich selbst ja auch geändert. Und das in einer – für mich – kurzen Zeit von einem Jahr.
„Ich bin Al-Har-Aquim, Schlächter der Nacht, Tsu-te, Auge der Gerechtigkeit, Hassan der Unerbittliche, Von Berg der Gnadenlose, Ismael von den Flüssen, Reiter der Finsternis, Eroberer der Welt, Herr über Himmel und Erde, Kal-Al Bezwinger der Drachen, Wanderer zwischen den Welten, Herzog von Ardaman, das und viele andere Namen die man mir gab. Ich bin gefürchtet, gehasst, vergöttert, man gab mir Namen der Größe, und Namen die man nur mit einem Schutzzeichen ausspricht, Namen die kleinen Kindern Angst machen, und Namen die Statuen so groß wie Berge zieren. Ich habe gelebt und geliebt, war gnädig und unnachgiebig, habe erobert, getötet, ermordet, geherrscht und wurde beherrscht.“
Der Blick in Ihren Augen, diesen Augen die ich in all der Zeit nie vergessen konnte, an denen ich jede Frau die ich in all der Zeit kannte oder besaß maß, er wandelte sich von Unglauben zu Spott. Wie macht man begreiflich was mir passierte? Wie kann man die Zeit fassen, die für mich verging, wo es für Sie doch kaum ein Wimpernschlag war, für mich die Ewigkeit?
Ich bin Mark Ansberg, ein Mensch, der ein normales Leben führte, ohne besondere Aufregung, ohne Überraschungen. Ein mittelmäßiges Studium, ein mittelmäßiger Job, ohne Überraschungen. Die Frau die vor mir Stand, war die Frau die ich liebte, mit der ich mein Leben verbringen wollte. Wir waren so jung, als ich das mir vorstellte, die Ewigkeit lag vor uns. Sie war immer noch so jung, einen Herzschlag älter als ich sie das letzte mal sah. Für mich war die Ewigkeit bereits vergangen. In dieser Welt war es zwölf Stunden her, das ich verschwand. Elf Stunden, neunundfünzig Minuten ist es her das ich wiederkam.
Für mich dauerte diese eine Minute 5000 Jahre.
„Ich war... lange Zeit weg. In dieser Zeit habe ich viele Dinge getan auf die ich nicht Stolz bin, Dinge die Notwendig waren, Dinge die unnötig waren.“
„Bei aller Liebe, aber was kann man in den paar Stunden denn so alles getan haben?“ fuhr es aus ihr heraus.
Ich konnte Sie nur anstarren, die Erinnerungen meiner fünftausendjährigen Oddysee durch die Welten schlug über mir zusammen, ich sah die vielen Toten die meine Spur säumten, viele von meiner Hand gestorben, andere unter meinen Händen als ich sie versuchte zu retten, an die verlorenen Lieben, an Kinder und Enkel deren Tod ich sehen musste, an Freunde die alterten und starben. Es waren so viele Geister die mich heimsuchten, ich konnte ihr einfach nicht antworten. Stattdessen öffnete ich das Hemd das ich trug, liess es auf den Boden gleiten. Und die Hose die ich trug – beides Kleidungsstücke die zwar Erinnerungen in mir wachriefen, die ich aber kaum noch gewöhnt war.
Nun war es an ihr, sprachlos mich anzustarren. Mein Körper war übersäht von Narben. Über allem – zum Teil unter, zum Teil über den Narben, war mein gesamter Körper mit einem Drachen tätowiert, der sich, von den Füßen an um meinen Körper wand, an den Armen entlang zu einer Doppelköpfigen Bestie auf meiner Brust. Die Farben waren trotz des Alters lebending, der Drachen bewegte sich wenn ich mich bewegte. In der Mitte meiner Brust trafen die Drachenköpfe sich mit aufgerissenem Maul und in ihrer Mitte hielten Sie eine Sonne. Die Sonne bestand aus Narbengewebe, nur leicht mit wenig Farbe wurde die sternförmige Wunde untermal um den Eindruck zu verstärken. Die Bewegung der Drachen war eine Illusion, einerseits durch die hohe Kunst des Meisters der mir den Drachen auftätowiert hatte, andererseits durch das bisschen Magie das in die Farben geflossen war. Mit jeder meiner Bewegungen, mit dem Spiel der sehnigen Muskeln unter meiner Haut bewegten sich die Köpfe, die Schuppen glänzten und gaben den Drachen etwas bedrohliches. Es war kein nettes Tattoo, ich trug es nicht als Schmuck sondern als Warnung, es hatte die Aufgabe Angst und Schrecken zu verbreiten unter denen die seine Bedeutung kannten, unter denen die sich nicht kannten löste es zumindest Unbehagen aus, und spielte die Dissonanzen auf den Urinstinkten, die die Menschen dazu veranlasste Schutz zu suchen im Angesicht einer wilden, hungrigen Bestie.
„Eine Tätowierung dieser Größe lässt sich nicht über Nacht anbringen und auch die Narben verheilen nicht so schnell.“
Fassungslos starrte sie meinen Körper an, der ihr einst so vertraut war, den Sie vor kurzer Zeit noch streichelte und liebkoste. Er war entstellt, all die Wohlstandsknubbel und Ringe die ihn umgaben waren verschwunden, vor ihr stand ein durchtrainierter Kämpfer, mit einem riesigen Tattoo.
„Jede einzelne dieser Narben ist eine Erinnerungen. Viele Narben kreuzen andere Narben, andere liegen direkt darüber. Ich hatte noch viel mehr Narben, aber die meisten sind verschwunden und existieren nur noch in meiner Erinnerung. Es klingt unglaublich, so unglaublich das ich in all den Jahren die ich fort war, immerzu an einen Traum geglaubt habe. Und doch ist jeder Tag passiert, habe ich länger gelebt als die meisten Menschen, habe ich mehr Graumsamkeiten begangen, und mehr gutes, als so mancher von sich behaupten kann. Ich werde dir die Geschichte erzählen, dem ersten Menschen seit fünftausend Jahren, der die ganze Geschichte erfahren soll um sich ein Urteil zu bilden. Ich bitte dich nur um eines, warte bis ich zuende erzählt habe, und dann urteile über mich. Entscheide ob meine lange Reise, auf der ich dich niemals vergessen habe, umsonst war, oder ob ich auf einen Neuanfang hoffen darf. Denn weiterführen könnten wir nichts, ich bin nicht der der ich war und Du wirst mich kennenlernen müssen als der der ich heute bin – der Wanderer zwischen den Welten.“

Es war ein schöner Tag im April. Ich war gerade fertig mit meiner Arbeit geworden und wollte früher Schluss machen. Nachdem ich meine Sachen zusammengeräumt hatte und mein Büro abgeschlossen, schwang ich mich auf mein Fahhrad und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Es war nicht sehr weit und die Fahrt dorthin war angenehm, durch Felder und Wiesen. Auf halber Strecke musste ich dann aufs Klo. Welch profanes Gefühl und welch seltsamer Einstieg für meine Wanderschaft. Doch es war wie es war, also hielt ich mit meinem Rad an und schlug mich in die Büsche. Als ich mich erleichtert hatte, drang mir dieser eigenartige Geruch in die Nase. Ich konnte ihn nicht einordnen, es war irgendwie eine Mischung aus Moschus, verbranntem Holz und Lavendel. Gar nicht mal so unangenehm. Aber seltsam. Ich versuchte herauszufinden wo der Geruch herkam und kämpfte mich tiefer ins Gebüsch. Das Gebüsch erschien mir aussergewöhnlich groß, von Aussen sah es eigentlich nur aus wie eine Hecke. Hier aber wurde es immer dichter, es war kaum noch möglich den Himmel zu sehen, nur hier und dort blitze etwas Blau durch die Blätter. Ich kam zu soetwas wie einer Lichtung in dem Gebüsch. Es war überraschend hell, auch wenn der Himmel immer noch über dem Geäst und durch Selbiges verdeckt war. Die „Lichtung“ war auch überraschend groß, mindestens vier oder fünf Schritte breit und lang. In der Mitte war so etwas wie eine Senke und ein Stein. Der Stein war weder besonders groß, noch sah er besonders aus, es war einfach ein Stein, etwa zwanzig Zentimeter hoch und spitz. Der Stein verströhmte diesen Geruch, der hier unglaublich intensiv war. Ich trat vorsichtig an den Stein heran. Eindeutig war es der Stein der so intensiv roch. Einerseits war es sehr seltsam das ein Stein – ein simpler Stein – so intensiv roch, aber andererseits war ich neugierig, und irgendwie, ein kleines bisschen, roch der Stein auch nach Abenteuer.
Ich gebe zu, das ich etwas gelangweilt war von meinem Leben, aber ich weiss nicht ob ich das was nun kam getan hätte, hätte ich gewusst was es bedeutet. Ich weiss bis heute nicht, ob ich es bereue. Einerseits habe ich mehr verloren als viele Andere gehabt hatten – nicht nur die Frau die ich zurückliess ohne es zu wollen, auch die Freunde und Familie die ich sterben sah in all der Zeit. Andererseits bekam ich Zeit geschenkt wie kaum ein anderer. Ich traf andere Wanderer auf meiner Odysee, manche noch am Anfang ihrer Reise, andere schon länger unterwegs als ich es war. Ich glaube einfach das alle früher oder später wieder dahinzurückkehrten wo sie herkamen. Vielleicht war es eine Aufgabe die es zu erfüllen galt, vielleicht musste der Wunsch zurückzukehren erst intensiv genug werden – oder vielleicht musste die Hoffnung erst sterben. Wir Wanderer unterhielten uns lange und ausführlich über unser Schicksal. Es kam selten genug vor das man einen traf, oft vergingen Jarhunderte dazwischen. Aber wir spekulierten immerzu, ob es eine Strafe oder ein Segen war. Jeder der Wanderer war anders, manche hatten eine Seele so schwarz wie die Nacht, andere schienen von unermesslicher Güte. Keiner gleichte dem Anderen, und alle hatten völlig unterschiedliche Geschichten zu erzählen. Ich erfuhr von Wundern, jenseits der Vorstellungskraft, und von Verbrechen – verübt oder gesehen durch die Wanderer – das mir auch nach all der Zeit beim Gedanken daran der Angstschweiß ausbricht. Wir Wanderer hatten keine Geheimnisse voreinander, wir waren die Ewigen, die die immer kamen und gingen. Gut und Böse zählte nicht viel für uns, im Laufe der Zeit schwankte ein jeder von hier nach dort. Schliesslich wird alles, jede Moral und jede Überzeugung, im Laufe der Jahrtausende langweilig.
Diese langeweile muss es gewesen sein, die mich in meinen jugendlichen Alter verleitet haben muss, nicht nur mich den Stein zu nähern, der so alles andere als ein Stein war, als auch ihn zu berühren.
Ich würde gerne erzählen das der Stein leuchtete, ein unwirkliches Licht mich einhüllte und mich davontrug, mir die wunder des Universums zeigte. Doch nichts davon geschah. Es wurde einfach dunkel.
Das nächste was ich wusste, war das ich aufwachte in derselben Lichtung in der ich soeben den Stein berührt hatte. Ich kniete sogar in der selben Stellung. Nur mit dem Unterschied das ich nackt war. Erst bemerkte ich es gar nicht, weil ich feststellte, das der Geruch verschwunden war, so plötzlich das es mich mit einer Leere füllte, die ich so nicht kannte. Ich hatte das Gefühl etwas wichtiges verloren zu haben. Aber der Stein, war einfach nur ein kalter Stein. Und ich begann zu frieren und stellte fest das ich nichts mehr anhatte.
Zu Tode erschrocken fuhr ich mit einem Schrei auf. Panisch blickte ich mich um. Es war niemand da, kein Windhauch, nur ich und der – jetzt völlig gewöhnliche – Stein.
Ich suchte auf der Lichtung nach meinen Sachen und in meiner Erinnerung nach dem was passiert war. Finden konnte ich nicht wonnach ich suchte. Es dauerte eine Weile bis ich meine Verwirrung überwand. Ich weiss nicht mehr wie lange. Ich beschloss mein Fahrrad zu suchen und in die Firma zu fahren, dort hatte ich zumindest etwas zum anziehen. Oh, wie naiv war ich zu denken das das mein größtes Problem sei!
Ich ging also den Weg zurück, den ich in die Hecke hineingenommen hatte. Als ich aus der Hecke hinaustrat drehte ich mich um um einen Blick zurückzuwerfen. Zu meiner Überraschung war der Weg den ich genommen hatte nicht zu erkenne. Ich versuche wieder in die Hecke zu gelangen, doch das Gebüsch war ausserordentlich dicht. Ich zog und zerrte an der Hecke und wollte tiefer in diese eindringen, doch plötzlich stand ich mit völlig zerkratzer Haut auf der anderen Seite. Die Hecke war nichts als ein kleines Gebüsch. Keine Lichtung, kein undurchdringles Gestrüpp.
Zurück ging ich um die Hecke herum, dort wo ich mein Fahrrad hinterlassen hatte. Doch es war kein Fahrrad mehr zu sehen. Und auch keine Straße. Und keine Felder oder Wiesen.
Um mich herum erstreckte sich ein dichter Wald, ein alter Wald, ein wilder Wald und ich mittendrin, nackt, allein und völlig verzweifelt. Wo war ich bloss gelandet?

Zurück