Mir blieb nichts anderes übrig als mich auf den Weg durch den Wald zu machen. Irgendwann musste ich ja herauskommen. Von der Lichtung auf der ich mich befand führte ein schmaler Pfad weg. Es war zum Glück warm genug, daß ich nicht fror, so ganz ohne Kleider. Der Boden war weich und ich hatte keine Probleme damit barfuß zu laufen.
Nach einiger Zeit, der Wald sah immer noch undurchdringlich wie zuvor aus, bemerkte ich das ich weder Vogel noch Insekt bisher gesehen hatte. Der Wald war wie ausgestorben. Ich blieb stehen um mich umzuschauen, doch ich konnte nichts entdecken, kein Spinnennetz, keine Ameise. Ansonsten sah der Wald aus wie ein normaler Wald, nur halt ohne jedes Getier. Noch ein Punkt den ich sehr seltsam fand. Aber auch hier konnte ich jetzt wenig unternehmen als es einfach hinzunehmen. Abwarten und schauen was passiert, was für Optionen hatte ich schon? Der Plan ein Tier zu erlegen und es zu essen, sowie das Fell als Kleidung zu benutzen musste schon alleine daran scheitern, das ich als Stadtmensch mit viel Mühe die Tiere identifizieren konnte, aber jagen, ausnehmen? Nein, das wäre sicherlich nicht etwas was ich könnte. Mal abgesehen davon, das ich nicht einmal ein Messer hätte, es also höchstens mit den Fingern und Zähnen hätte auseinanderreissen.
Nach einigen Stunden wurde es dunkel im Wald. Nicht so wirklich stockfinster wie befürchtet, aber durch das dichte Blätterdach blitzte nicht mehr ab und an ein blaues Fleckchen, sondern eher ein dunkles. Ein silbriges Licht ergoss sich jedoch in den Wald, das ausreichte, daß ich meinen Weg einigermassen fortsetzen konnte. Mittlerweile war ich hungrig und durstig geworden, aber ausser ein paar seltsam aussehenden Beeren mit einem Pelz an einem Strauch hatte ich nichts gesehen, das entfernt nach essbarem aussah. Und da ich die Beeren nicht kannte und mir die feinen Haar an der Haut suspekt vorkamen, wollte ich nichts riskieren und habe sie hinter mir gelassen.
Die Temperaturen nahmen zum Glück nicht sehr ab, so dass ich immer noch nicht fror. Nach einigen Stunden – zumindest fühlte es sich so an, ich hatte ja keine Uhr und hätte ich am Stand der Sterne, sofern ich sie gesehen hätte, die Zeit nicht ablesen können, beschloss ich zu rasten. Der Durst war noch nicht quälend, nur der Hunger störte ein wenig. Ich beschloss ein bischen zu schlafen und zu hoffen, das ich morgen etwas zu trinken und zu essen, und vielleicht sogar den Ausgang aus dem Wald fand.
Kurz bevor mir die Augen zufielen schoss mir der Gedanke durch den Kopf, das es sich eigentlich nur um einen Traum handeln konnte. Wahrscheinlich war ich mit dem Rad gestürzt und träumte das alles nur. Der letzte Gedanke war dann nur noch, das es doch sehr ungewöhnlich sei, im Traum vom Schlafen zu träumen, aber dann war ich schon eingeschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit Hunger, Durst und mir war kalt. Es hatte ein bisschen abgekühlt und mangels Decke und Kleidung war ich doch durchgefroren. Immerhin hinderte das mich daran über meine missliche Lage nachzudenken. Stattdessen begann ich im Laufschritt den Pfad entlang zu wandern. Nach wenigen Minuten wurde mir warm, und da ich ab und zu ein helles Blau über mir entdecken konnte, schloss ich das es Tag war und heute alles gut werden würde.
Tatsächlich erreichte ich nach etwa zwei Stunden einen kleinen Bach. Ohne groß nachzudenken stürzte ich mich in den Bach – mir war ja mittlerweile vom Laufen warm – und trank gierig daraus. Erst nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, kam mir der Gedanke das ja auch das Wasser verseucht sein könnte, was die Abwesenheit von jeglichem Getier erklären würde. Dann aber war es mir egal, denn entweder war das ein Traum, dann konnte mir nichts passieren. Oder ich war nackt, alleine, an einem unbekannten Ort mitten im Wald, ohne jegliche Nahrung, da würde ich früher oder Später sowieso verhungern, erfrieren oder verdursten. Und gegen den Durst konnte ich im Moment was unternehmen. Sollte das Wasser giftig sein, wäre das zumindest die schnellste Art zu sterben gewesen.
Es stellte sich dann ja heraus, das das Wasser nicht giftig war, sondern sehr erfrischend. Am Bachrand fand ich einige Sträucher mit den unbekannten Beeren. Ich beschloss mein Glück weiter zu versuchen und probierte vorsichtig eine der Beeren. Es war eine Überraschung wie lecker diese waren, so eine Mischung aus Erdbeere, Himbeere und Apfel, sehr süß und angenehm. Ich aß alle Beeren die ich auf den Sträuchern fand, selbst als ich keinen Hunger mehr hatte zwang ich mich dazu mir die Beeren in den Mund zu schieben. Schliesslich wusste ich nicht wann ich wieder was zum Essen finden würde.
Der Weg dem ich gefolgt war, kreuzte den Bach. Ein wenig ratlos stand ich dort nun und überlegte. Der Weg könnte in Richtung einer Besiedlung verlaufen. Oder auch darum herum. Oder einfach von ihr weg (ich hatte nie geschaut ob von der Lichtung noch ein anderer Weg wegführte). Aber an Bächen und Flüssen finden sich normalerweise früher oder später Besiedlungen. Es konnte also kein Fehler sein, dem Bachlauf zu folgen, mal abgesehen davon, sah das Ufer angenehm und einladend aus, und ich konnte so jederzeit meinen Durst stillen. Die Wahrscheinlichkeit auf Beerensträucher zu stossen war meiner Ansicht nach auch größer als bei dem Waldpfad. Also folge ich dem Bachlauf und setzte meine Wanderung begleitet von dem glucksen und gurgeln des Wassers fort.

Zwei Tage lang folgte ich dem Bach, der langsam breiter wurde. Es würde schon schwer sein, den Bach nun zu überqueren, weil er auch relativ tief war und mir an manchen Stellen bis zur Hüfte reichte. Fische konnte ich aber hier auch nicht erkennen, was das Ganze wiederum seltsam erscheinen ließ. Die Nächte verbrachte ich am Ufer, auf einem Polster und zugedeckt von Moos, das das ganze Ufer bedeckte.
Gegen Mittag des dritten Tages hörte ich in der Ferne ein Rauschen. Ich dachte zuerst an die Autobahn. Doch bald war klar, das es sich hier eigentlich nur um einen Wasserfall handeln konnte. Es dauerte keine halbe Stunde bis ich den Wasserfall erreichte.
Der Blick vom Rand des Wasserfalls war atemberaubend. Dieser Bach, der in der letzten halbe Stunde auf eine Breite von gut dreissig Metern angeschwollen war, stürzte sich todesmutig eine Schlucht herunter. Unter mir ging es vielleicht hundert Meter nach unten, praktisch senkrecht. Der Bach zerstob in tausend schillernde Tropfen und ein Regenbogen leuchtete in allen Farben über dem tobenden Wasser. Das Geräusch war Ohrenbetäubend. Doch der Blick über den Wasserfall hingweg ließ mich schwindeln. Soweit das Auge reichte sah ich grün, Wipfel in alle Richtungen. Ich stand inmitten eines Berges in einem unendlichen wilden Wald. Es gab keine Tiere (zumindest nicht hier auf dieser Hochebene), noch ausreichend Beeren (die mich bisher ernährt hatten, doch hatte ich keine Hoffnung das das immer so bleiben würde). Zu meiner Rechten hing die Sonne tief über den Baumspitzen und tauchte alles in warme Töne. Ich hockte mich an den Rand des Wasserfalls und versuchte meiner Verzweiflung Herr zu werden. Welche Optionen hatte ich? Ich konnte versuchen einen Abstieg weiter weg zu finden, am Wasserfall entlang herunterklettern – schwierig aber nicht unmöglich, ich konnte auf dem Weg nach unten viele Felsen und Baumreste erkennen, so dass ich genügen Halt finden sollte. Oder ich konnte dem ganzen ein Ende setzen und mich hier und jetzt herunterstürzen.
Kurz: Ich hatte die Wahl der Qual, und ich beabsichtigte sie zu nutzen.
Um meine Hoffnungslosigkeit nicht noch weiter zu schüren, beschloss ich erst mal zu schlafen und zu schauen ob der Morgen eine Idee bringen würde.

Am nächsten morgen wurde ich von der Sonne geweckt, die mir ins Gesicht schien. Ein paar Schluck Wasser aus dem Bach – der jetzt eher ein Fluß war – und dann beschloss ich mich an den Abstieg zu machen.
Der Abstieg gestaltete sich einfacher als Gedacht. Es gab viele Möglichkeiten sich festzuhalten und ich hatte sogar immer wieder Gelegenheit mich zwischendurch auszuruhen an großzügigen Felsvorsprüngen.
Am Boden neben dem See am Fuße des Wasserfalls angekommen, fand ich wieder die bereits bekannten Fruchtbüsche, diesmal in so großer Anzahl das ich bequem mich vollessen konnte. Die Welt sah hier ganz anders aus, ich konnte Insekten und Spinnen entdecken, sogar das eine oder andere Tier in dem Bäumen konnte ich rascheln hören.
Direkt vom See weg lief ein Weg, der so breit war, das er von Menschenhand angelegt worden sein musste. Ich folge dem Weg eine Zeit und gelang nach einigen Stunden zu einem Dorf. Es bestand aus einfachen Hütten mit Reisigdächern. In der Mitte des Dorfes war eine erkaltete Feuerstätte.
„Hallo? Ist da jemand?“ rief ich hinein.
Niemand antwortete mir. Ich konnte auch keine Stimmen, weder von Tier noch Mensch hören. Also beschloss ich mir das innere der Hütten näher anzuschauen.
Die Hütten waren einfach eingerichtet, meistens mit einer Liegestatt, manche sogar mit so etwas wie einem niedrigen Tisch. Beim Anblick der Liegestatt überfiel mich eine bleierne Müdigkeit, die so heftig wurde, das ich ohne an die Konsequenzen zu denken einfach mich hinlegte und sofort einschlief.
Es kann nicht lange gedauert haben, bis ich wieder auffwachte, denn es war noch hell. Mich hatten Geräusche aus dem Dorf geweckt. Also beschloss ich mich bemerkbar zu machen, damit keine falschen Ideen aufkamen. Ein Fell das in der Hütte herumlag benutzte ich dennoch um mich notdürftig zu bedecken.
Ich trat aus der Hütte heraus und erstarrte beim Anblick der Wesen die dort standen. Es waren eine Reihe von Kriegern, deren menschlichstes Merkmal der Aufrechte Gang auf zwei Beinen und die Hände waren. Auch hatten sie kein eine glatte Haut, wenn auch eher von grünlicher Färbung. Die Gesichter sahen ganz und gar nicht menschlich aus, mit flachen dunklen Schnauzen und gelben bis brauen Augen eher wie ein Mischung aus Wolf und Mensch.
Einer der Wolfsmenschen rief etwas, das wie eine Mischung aus Klicken und Gurgeln klang. Ich hob sofort meine Hände um zu zeigen das ich unbewaffnet war und versucht mich verständlich zu machen.
„Ich komme in Frieden! Ich brauche Hilfe und habe mich verlaufen! Ich...“
Etwas zu sagen war wohl das falscheste was ich tun konnte. Das letzte was ich mitbekam war wie einer der Krieger – denn es waren definitiv Krieger – auf mich zusprang und mich mit einer Keule am Kopf traf.
Als ich erwachte, fand ich mich gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl wieder. Der Stuhl befand sich in der Mitte des Dorfes.
Meine Wache bemerkte schnell das ich wach war und rief etwas mit diesen klickenden Lauten, die ich nicht verstand. Kurze Zeit später war ich umringt von Kriegern – die bis an die Zähne bewaffnet waren – und mit gegenüber stand ein etwas kleinerer Wolfsmensch mit einer Maske. Die Maske sollte wohl sowas wie einen Dämon darstellen, ich fand sie jedoch ziemlich albern. Was aber daran liegen konnte, das der Dämon doch recht menschliche Gesichtszüge hatte.
Der Typ mit der Maske fing an um mich herumzugehen und einen komischen Singsang von sich zu geben. Dabei hüpfte er immerzu um mich herum und schwang etwas das wie ein Pinsel aussah immer wieder in meine Richtung. Naja, immerhin sah es nicht so aus als wollten sie mich zum Abendessen verzehren, ausser sie wollten mich zu Tode langweilen.
Nach einiger Zeit blieb er vor mir stehen und sah mich direkt an. Dann nahm er mir den Knebel ab, doch bevor ich etwas sagen konnte stopfte er mir den Pinsel in den Mund. Keine Ahnung was er damit gemacht hatte, aber den Pinsel schmeckte dermassen wiederlich, das ich sofort zu würgen begann. Anscheinend hatte er darauf gewartet, denn er drehte sich zu den anderen um, mit erhobenen Armen und rief etwas. Darauf schien eine Erleichtung durch die Menge zu gehen.
Mir war recht klar, das es sich dabei sicher nicht um meinen Freispruch handelte. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch wurde nicht besser durch den Pesthauch des Pinsels im Mund. Zu meinem Glück war der Eckel so stark, das ich den Pinsel herauswürgen konnte. Der Typ mit der Maske hatte sich noch nicht umgedreht, als ich ihn ansprach:
„Entschuldigung, dürfte ich was sagen?“
Trotz des ernstes der Situation hätte ich am liebsten laut losgedacht als sich der – ich nannte ihn hier schon Medizinmann – umdrehte und vor Schreck auf den Hintern setzte. Die anderen Krieger machten einen Satz zurück und griffen verzweifelt zu ihren Waffen. Das war also definitiv kein Freispruch gewesen.
„Würde es Ihnen was ausmachen mich loszubinden? Ich denke ich kann das erklären...“
Die neuerlichen Worte von mir liessen den Medizinmann – oder Medizinwolf? – aus seiner Starre erwachen, er sprang auf und nahm eine Handvoll Pulver aus einem Beutel an seinem Gürtel und warf es in meine Richtung. Ich atmete nicht viel davon ein, aber sofort wurden meine Glieder schwer wie blei, ich konnte mich kaum bewegen und meine Gedanken flossen nur noch zäh wie Honig.
Wie in Zeitlupe konnte ich den Medizinmann sehen, wie er auf mich zukam. Er stellte sich vor mich, reckte einen Arm in die Luft und mit der rechten Hand berührte er meine Brust. Trotz das alles für mich wie in Zeitlupe ablief, konnte ich mich nicht rühren.
Dann kam der Schmerz, ein unglaublicher Schmerz der in meinem Brustkorb unter seiner Hand wütete. Ich hätte am liebsten geschrien, aber das konnte ich ja nicht. Der Schmerz wurde immer schlimmer, bis ich an nichts anderes mehr denken konnte. Ich konnte auch meinen Blick nicht von seiner Hand wenden, die auf meiner Brust lag und sich langsam von ihr fortbewegte. Unter seiner Hand entstand eine Beule, dort fing die Haut an zu spannen, zu brennen und schliesslich unter neuerlichen, unerträglichen Schmerzen zu reissen. Ein sternförmiges Loch entstand in meiner Brust und – ich kann es nicht anders beschreiben – herausgezogen kam mein Herz, fest mit der Hand des Medizinmannes verbunden.
Als es ganz heraus war hielt er es hoch in die Luft. Ein schlagendes rotes etwas, kleiner als ich es mir vorgestellt hatte, aber ich war ganz sicher das es meines war. Der Medizinman betrachtete das Herz, dann sah er mich an. Ich sah ihn an und wunderte mich, das ich noch lebte, wo der Typ doch mein Herz in Händen hielt.
Der Medizinmann schaute wieder das Herz an. Es schien ihm sichtbar schwer zu glauben was er dort sah. Im Hintergrund fingen auch die Krieger an unruhig hin und herzurutschen. Anscheinend war hier etwas passiert, was so nicht geplant war.
Ich weiss nicht was ich genau erwartete, aber sicherlich nicht, das der Medizinman die Hand mit meinem Herzen sinken liess, dann es vorsichtig in das Loch in meiner Brust drückte, die Hautlappen darüber zuklappte und mit der linken Hand kurz darauf drückte. Es tat wieder weh, aber es war ein fast schon angenehmer Schmerz. Als er die Hand zurückzog war von den Rissen und dem zerfetzten Fleisch nur noch Narben übrig und ich konnte mein Herz wieder in meiner Brust schlagen hören.
Man Band mich los und versuchte mir aufzuhelfen. Was immer es war, das geschehen war, ich war offensichtlich keine Bedrohung mehr.
Durch die Entkräftung meiner Wanderung, die Tortur von dem was auch immer hier gerade abgelaufen war und der Panik die einen befällt wenn man splitternackt in einer anderen Welt aufwacht, beschloss mein Gehirn erneut den Dienst einzustellen und ich sackte ohnmächtig zur Seite in einen langen traumlosen Schlaf.

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