Zimtschnecken und Salmiak 3

Einige Straßen weiter ging Jo in ein Geschäft und kaufte sich eine Jacke und eine neue Hose. In einem Kosmetikgeschäft nebenan kaufte er noch eine getönte Tagescreme die einige Stufen dunkler war als seine Haut und in einer öffentlichen Toilette zog er die Sachen an und trug großzügig die Creme auf Gesicht, Arme und Hände auf. Ein kritischer Blick in den Spiegel zeigte zwar niemand komplett fremdes, aber man musste schon genauer hinschauen um zu erkennen das es dieselbe Person war die in die Toilette hineingegangen war. Jo beschloss das es reichen musste und er machte sich auf den Weg zum Tivoli. Zu seinem Glück war er vorsichtig genug immer mal wieder nach Verfolgern Ausschau zu halten.

Und dann tauchte Harry auf. Jo dachte erst das es sich wieder um einen dummen Zufall handelte. Nach ein paar Seitenstrassen musste er aber feststellen, das Harry ihm folgte. Und er war gut. Allerdings dachte er wohl das Jo nicht nach Verfolgern Ausschau hielt. Das war Jos Glück, sonst hätte er Harry wohl gar nicht bemerkt. Langsam kam Jo die Sache sehr seltsam vor. Er versuchte sich genauer an das Gespräch zu erinnern. An all die seltsamen Kleinigkeiten. Das Harry gar keine Antwort erwartet hatte. Sondern offensichtlich Jo nur von der Strasse wegbekommen wollte. Aber Jo hatte ihn gar nicht bemerkt. Wusste Harry das? Oder wollte er sicher sein, dass niemand ihn gesehen hatte? Warum wollte er in dem Cafe unbedingt wissen wo Jo wohnt? Und wie passte der Stop an dem Strassenmusikerstand da rein? Jo bekam ein echt übles Gefühl bei der Sache. Er hatte Harry seit vielen Jahren nicht gesehen, und konnte sich kaum an ihn erinnern. Das muss nicht einmal der gleiche gewesen sein. Und wenn der Halt bei dem Strassenmusiker ein vereinbartes Zeichen war? Seine Identifizierung? Jo bekam das Gefühl richtig tief in der Scheisse zu sitzen.

‚Mist, Mist, Mist. Warum habe ich mich auf diesen Scheiss eingelassen?‘

Wäre er bloss in USA geblieben. Lieber lebend einiges vermissen als Tot zu sein.

Jo wurde zunehmend panisch und fing an einige hektische Manöver durchzuführen. Aber er konnte Harry nicht abschütteln. Er find sogar an aufzuschliessen und hatte wohl festgestellt das Jo ihn bemerkt hatte – und sich nicht verfolgen lassen wollte. An einer vielbefahrenen Strasse, der Store Kongensgade, versuchte Jo ein verzweifeltes Manöver. Als er merkte das Harry jede Heimlichkeit fallen liess und schnell zu ihm kam – nicht rannte, aber definitiv schnell – sprang Jo direkt in den Verkehr. Mit viel gehupe und bar jeder skadinavischen Freundlichkeit konnte er den Autos gerade so ausweichen und verschwand auf der anderen Straßenseite in einem Hinterhof bei dem zufällig die Tür nur angelehnt war. Im Durchgehen schloss er die Tür noch hinter sich. Gedämpft hörte er das Geräusch von kreischenden Bremsen und Blech. Aber da war er schon über den Hof und auf der anderen Seite in das nächste Gebäude. Dort ging er durch den Haupteingang und bog ab. Ihm war klar das Harry entweder hinter ihm war, oder um den Block herumging um ihn zu treffen. Jo konnte nur auf sein Glück vertrauen, das er in die richtige Richtung abgebogen war. Nach einem schnellen Marsch – diesmal suchte Jo wenig belebte Strassen, da dies es ihm einfacher machte einen Verfolger zu erkennen – hielt Jo an und ging in ein alternatives Café. Die Scheiben waren so beklebt das man kaum hineinschauen konnte – aber durchaus noch hinaus. Jo bestellte sich einen Kaffee und setzte sich an das Fenster um die Strasse zu beobachten. Als nach 20 Minuten immer noch niemand die Strasse suchend entlangkam, und auch Harry nicht auftauchte, entspannte sich Jo endlich wieder. Über eine Stunde saß er noch da und wartete, dann beschloss er das es sicher sein müsste und verliess das Café. Da ihm klar war, das er entweder verfolgt würde, oder seine Verfolger abgeschüttelt hatte, aber sich in Kopenhagen nicht ausreichend gut auskannte, dass er dieses Kunststück jedesmal schaffen würde, nahm er am nächsten Taxistand ein Taxi. Er setzte sich in den Fond und versuchte so gut es ging den Verkehr im Auge zu behalten. An der Frelsers Kirche Christanshavn liess er sich absetzen – Touristisch genug um nicht aufzufallen und doch weit genug von seiner Absteige entfernt. Er ging ein paarmal um den Block inklusive Richtungswechsel und stellte fest das er immer noch nicht verfolgt wurde – oder die Verfolger nicht erkannte. Dann beschloss er, das er entweder sowieso keine Chance hatte oder erst mal in Sicherheit war. Also ging er zurück zu seiner Unterkunft und legte sich auf sein Bett. Vorsichtshalber allerdings voll angezogen. Obwohl er wach bleiben wollte, forderte das Adrenalin des Tages seinen Tribut und er schlief ein.

Als er wieder aufwachte war es draussen schon dunkel.

‚Toll, ich lebe noch.‘

Der Gedanke hatte erstaunlichweise etwas tröstliches. Und weil er sich erst einmal klar machen musste was er jetzt tun sollte, schaltete er seinen Laptop ein und fing an ein bisschen Recherche zu betreiben. Aber keine seiner Suchstrategie förderte irgendetwas über seinen alten Kumpel Harry zu Tage. Wie konnte das sein? Ein IT-Typ der nicht die geringste Spur im Netz hinterlässt? Unter keinem seiner Nicks die Jo noch kannte? Jo saß ideenlos vor seinem Laptop. Dann erinnerte er sich an die CD die er heute gekauft hatte und suchte diese. Er legte sie in das CD-Laufwerk seines Computers weil er hoffte das die Musik ihm neue Inspiration bringen würde. Aber der Musikplayer spielte sie einfach nicht ab. ‚Na toll, beschissen worden bin ich auch noch, wahrscheinlich ein leerer Rohling für 30 Kronen.‘.

Er schaute nochmal mit dem Explorer auf die CD und verchluckte sich. Das war keine Musik-CD. Es enthielt einige Dateien. Und ein erster Blick auf die CD liess Jos Mund sehr, sehr trocken werden.

‚Oh, Fuck...‘

Die Dateien waren Kontoauszüge. Bankbewegungen. Namenslisten. Kontenlisten. Adressen.

Beim Überfliegen der Einträge traf es Jo wie ein Schlag in die Magengegend. Das waren nicht irgendwelche Leute. Nicht noch eine „Steuer-CD“. Das waren keine Kleckerbeträge. Da ging es in jeder einzelnen Buchung um Millionen. Und die Namen waren zum größtenteil bekannt. Unternehmer. Politiker. Diktatoren. Auf den ersten Blick waren auch die Hälfte der aus Funk und Fernsehen bekannten Terroristen darunter. Das waren nicht nur einfach Bankbewegungen. Das war die komplette Finanzstruktur von Staaten und Unternehmen. Und nicht einfach nur Geld irgendwohin überwiesen, sondern es gab querverweise. Aufschlüsselungen wo und an wen das Geld ging. Aus den Daten ging eindeutig hervor, das nicht nur die Unternehmen Geld an der Steuer vorbeibrachten, sondern das Politiker geschmiert wurden. Das Staaten an andere Staaten Milliarden überwiesen – und zwar Staaten mit denen Sie angeblich verfeindet waren. Er fand Überweisungen der Vereinigten Staaten an den Iran. Geschäfte von Haliburton mit Nordkorea. An Islamistische Organisationen. Direkte Überweisungen an alle bekannten Terrorgruppen von verschiedenen Staaten. Unternehmen kauften Präsidenten. Präsidenten kauften Terroristen. Terroristen Waffen. Waffen kauften Wahlen. Diese CD war nicht Zündstoff. Diese CD war die Apokalypse. Ragnar Rök.

Jo lehnte sich zurück in seinem Stuhl. Wie kam diese CD in die Hülle. Wie war das gleich, er wollte eine CD kaufen und der Verkäufer hielt ihm diese hin. Oder hielt er sie ihm wirklich hin? Harry stand neben ihm. Und die Hand des Verkäufers ging irgendwie eher so in die Mitte... Ihm kam ein Verdacht, der immer stärker wurde je mehr er darüber nachdachte. Nicht er war überrascht worden, sondern Harry. Und er war in Panik geraten. Anstatt die CD zu bekommen, hatte er Jo an der Backe. Und der hat ihm die Tour vermasselt.

Jo schaute sich nochmal die CD und die Dateien an. Eine Datei hatte er noch nicht angeschaut. Es war ein komprimiertes Archiv. Aber sein Computer wollte ein Passwort um es zu öffnen. Wahllos probierte Jo ein was ihm so einviel. „Passwort“. „password“. „Peter Jones“. Er war nicht überrascht als es nicht funktionierte. Mit den Fingerspitzen tippte er auf den Tisch. Dann drückte er den Auswurfknopf des CD-Laufwerkes und schaute sich die CD genauer an. Tatsächlich, in der Ecke stand klein eine Buchstaben- und Zahlenkombination. Er tippte die in eine Textdatei, legte die CD wieder ein und versuchte die Datei zu öffnen. Dabei benutzte der den Code der auf der CD stand. Tatsächlich liess sich die Datei problemlos öffnen. Es waren diverse Unterordner darin und er öffnete wahllos einen und fand eine Reihe von Bilddateien. Er schaute sich die erste an. Dann die zweite. Bei der Dritten rannte er in das Badezimmer und kotze ausgiebig.

Die CD war keine Atombombe. Keine Apokalypse. Die CD war der Antichrist der auf der Erde angekommen war. Die Bilder in dem Archiv waren genug Erpressungsmaterial um alles von jedem zu Bekommen. Für diese CD würde gemordet werden und es wäre ein billiger Preis. Wahrscheinlich würde einige Leute die auf der CD zu sehen waren wie Sie unaussprechlich taten – mit Frauen, mit Männern, Dingen, mit Tieren, mit Kindern – ohne zu zögern einen Krieg anfangen, ein Land in Schutt und Asche legen, nur dass niemals herauskam was auf den Bildern zu sehen war.

Es konnte ein Fake sein. Es konnte alles ein Fake sein der nur dazu da war die Welt zu destabilisieren. Sozusagen ein Terroranschlag in Bits und Bytes. Es wäre möglich. Dann erinnerte Jo sich an einen Namen den er in der Liste gesehen hatte. Er ging zurück und dann sah er ihn. Den Namen, der ihm seinen Amerikaurlaub eingebrockt hatte. Und nicht nur einer. Alle von denen er vermutet hatte, das sie hinter der Sache steckten, waren dabei. Und das Geld floß. Von Deutschland, nach Afghanistan. Direkt zu einem Draht der Taliban. Es floss zur Polizei. Zum BND. In die Politik. Es wurde geschmiert und bezahlt.

Mit schweißnassen Finger suchte Jo auf der Tastatur nach einem anderen Namen. Was wenn Erwin...? Zehn lange Minuten und dreimaliges durchsuchen der Tabellen liessen Jo aufatmen. Zumindest in diesen Listen wurde Erwin nicht direkt geschmiert. Das musste nichts heissen aber...

Was sollte Jo nur tun? An die Presse? Zur Polizei? Die CD vernichten? Abhauen? Nur wohin? Und konnte er überhaupt irgendwohin fliehen? Die CD behandelte praktisch jedes Land der Welt, jeden mit Einfluss, Macht und Geld. Er wäre überall Freiwild wenn der Inhalt der CD an die Öffentlichkeit dringen würde. Man würde ich töten. Langsam. Schmerzhaft. Aus reinen Rachegelüsten. Aber definitiv würde er es nicht überleben.

So saß Jo lange im Dunkeln. Er zog die Vorhänge seines Zimmers zu und machte die Schreibtischlampe an. Dann schaltete er den Fernseher an und suchte nach Nachrichten. Die Lokalnachrichten brachten einen Bericht über einen schweren Unfall in Kopenhagen. Es hiess soweit Jo das verstand das zwei Männer plötzlich über die Store Kongensgade mitten in den Verkehr gerannt waren. Der erste ist dann wohl unerkannt weggelaufen, der zweite wurde bei dem Ausweichmanöver von einem PKW erwischt und an einem Laster zerquetscht. Die Strasse war den ganzen Abend gesperrt und die Bilder im Fernsehen waren ziemlich unschön. Bevor Jo den Bericht mit dem Nachmittag des Tages in Verbindung bringen konnte wurde ein Fandungsbild des ersten Mannes eingeblendet. Es war so gut wie ein Fahndungsbild sein konnte, das von desinteressierten Passenten einem Polizeizeichner beschrieben wurde. Aber es zeigte eindeutig Jo. Das Loch in das Jo fiel war sehr tief und sehr schwarz.

Harry war tot. Jo wurde polizeilich gesucht. Er hatte eine CD die mehr Sprengstoff enthielt als alle Whistleblowerenthüllungen der letzten 50 Jahre. Und er war mit einem falschen Pass in einem Land, in dem er sich kaum auskannte und die Sprache nicht einmal ansatzweise beherrschte. Eigentlich konnte er sich direkt in dem Zimmer aufhängen, er hatte überhaupt keine Chance.

Lange starrte Jo blicklos auf den Fernseher. Dann schaltete er ihn aus. Er hatte eine Entscheidung getroffen.

 

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